Die Geschichte des Spannagelhöhlensystems beginnt man erst seit kurzem langsam zu erahnen. Wurde noch vom ersten Bearbeiter (Ernest Jacoby) die Ansicht vertreten, das System sei kaum mehr als
etwa 10.000 Jahre alt, also weitgehend nach der letzten Eiszeit entstanden, so sind wir heute dank moderner analytischer Methoden in der Lage, diese Zahl um mindestens das 50-fache
hinaufzuschrauben! Laufende Untersuchungen und Altersbestimmungen anhand der kalzitischen Tropfsteine haben eine Reihe von Alterswerten ergeben, wovon einige älter als cirka 400.000 Jahre sind.
Das ist die Messgrenze der verwendeten Thorium-Uran-Methode. Messungen mit der Uran-Blei-Methode - möglich, da die Proben sehr reich an Uran sind - haben an einer Probe sogar ein Alter von gut
einer halben Million Jahre erbracht. Natürlich fanden sich jüngere Sinterproben, aber für die Höhlenentstehung relevant sind natürlich die höchsten Alterswerte. Somit lässt sich bereits jetzt
feststellen, dass das Spannagelhöhlensystem eine lange Geschichte hat und durch die Einwirkungen der großen Gletscherschwankungen („Eiszeiten“) stark geprägt worden ist. In den letzten 10.000
Jahren hingegen dürfte sich an der Gestaltung der Höhle nur mehr wenig verändert haben, sieht man von Prozessen wie Deckenbrüchen oder Frostsprengung ab.
Fragt man nach den Prozessen, die zur Entstehung des verzweigten Höhlensystems nahe des Hintertuxer Gletschers geführt haben, dann hat man den Hauptverantwortlichen bereits genannt! Denn der
Gletscher mit seiner beachtlichen Wasserführung hat in der Höhle untrügliche Spuren hinterlassen. Zum einen sind die zahlreichen, meist sehr gut gerundeten Gerölle aus Zentralgneis zu nennen, die
in der Höhle ortsfremd sind und sich bis zu den Enden des Höhlensystems (Bauchbad, Spannagelhalle) verfolgen lassen. Heutige Höhlenbäche sind nicht in der Lage, solche Geröllfracht zu bewegen,
selbst während der Schneeschmelze nicht. Hier müssen also ganz andere Bäche ihren Weg durch den Marmor gesucht haben und es sind auch diese Schmelzwasserbäche, die die Kolke ausgehobelt haben,
die sich bis zu einige Meter tief in den unterlagernden Gneis eingeschnitten haben. Heute mit Sand und Kies gefüllt, stellen sie klare Zeugen für die frühere Tätigkeit von gewaltigen Höhlenbächen
dar. Einen solchen ausgegrabenen Kolk, eine unterirdische Gletschermühle, kann man in der Schauhöhle besichtigen. Man kann sich
lebhaft vorstellen, dass Gletscherschmelzwässer den durchlässigen Hochstegenmarmor als ,,willkommene" Drainage betrachtet haben. Allerdings muss man auch hier bezüglich der zeitlichen Komponente
vorsichtig sein. So hat eine Altersbestimmung eines Sinters, der innerhalb eines Kolkes im Kolkgang entstand, ein Alter von über 400.000 Jahre ergeben! Da der Sinter jünger ist als der Kolk, muss
letzterer vorher entstanden sein. Offenbar sind also, so legen die Daten nahe, gewaltige Erosionskräfte lange vor der letzten Großvereisung am Werk gewesen. Die Gletscherschmelzwässer der letzten
Eiszeit mit Höhepunkt vor rund 20.000 Jahren haben also ein bereits lange vorher bestehendes unterirdisches ,,Kanalsystem" benutzt; lose herumliegende bzw. in kiesig-sandigen Sedimenten
eingelagerte Zentralgneis-Gerölle zeugen vom turbulenten Treiben dieser Bäche. Letztere brachten auch viel sandiges Material aus dem Gletscherbereich in die Höhle, füllten die Kolke auf und
führten an Engstellen zu Verstopfungen. So sind die Sandschlüfe großteils mit Kiesen und Sanden verstopft, die kaum verfestigt sind und die Spuren der letzten Eiszeit in der Spannagelhöhle
darstellen. Diese Sedimente werden lokal von der jüngsten, oft noch aktiven, weißen Sinter-Generation überlagert, die basale Alterswerte zwischen cirka 13.000 und 9.000 Jahren geliefert hat, also
nach der letzten Eiszeit entstanden ist.
Andererseits gibt es auch deutliche Hinweise auf recht rasch verlaufende Erosionsprozesse. So wurden bei Kartierungsarbeiten am Fuße der Lärmstange, im westlichen Vorfeld des sich zurückziehenden
Hintertuxer Gletschers, Reste vom Gletscher abgeschliffener Tropfsteine gefunden, die ein Alter von cirka 100.000 Jahren ergaben (von einer Höhle ist dort nichts mehr zu sehen). Ein Hinweis,dass
hier der Gletscher ,,ganze Arbeit"geleistet hat.
Neben der Tätigkeit von Höhlenbächen, die mit ihren bekannten Erosionsformen (Canyons) im Höhlensystem deutliche Spuren hinterlassen haben, lassen sich aber streckenweise auch ältere Formen
feststellen. Es handelt sich um kreisrunde bis elliptische Gangformen, oft nachträglich zu einem Schlüsselloch-Profil modifiziert, die man eindeutig phreatischen Bedingungen zuordnen kann. Im
Klartext: Solche Gänge wurden durch die langsam lösende Tätigkeit von Wasser gebildet, das diese Gänge komplett ausgefüllt hat. Belege hierfür sind neben dem annähernd runden Querschnitt (d.h.
allseitige Laugung) die Omnipräsenz von meist großen Fließfacetten, insbesondere an der Firste. An Hand der Asymmetrie der Fließfacetten lässt sich belegen, dass das Wasser in einigen dieser
Druckröhren sogar etliche Meter hinauf geflossen ist! Wiederum ein Beweis für phreatische Bedingungen. Beispiele für solche alten phreatischen Röhren sind der Tunnel der Hoffnung unterhalb der
Märchenwelt sowie die Strecken vor und nach den Sandschlüfen im Nordsystem. Bezeichnenderweise sind diese wohl ältesten Abschnitte des Höhlensystems fast immer nahe der Hangendgrenze des Marmors
angelegt, von wo aus sich dann spätere vadose Canyons bis zur Liegendgrenze durchgeschnitten haben (und die Röhren damit trockengefallen sind). Wann die Spannagelhöhle eine zumindest saisonal
unter Wasser stehende Höhle war, wissen wir noch nicht. Sicher ist nur, dass es sich hierbei um die ältesten Höhlenteile handelt und somit ein mindestens in die Hunderttausende gehendes Alter
sehr wahrscheinlich ist. Auf Grund der vielfältigen Wasserwege und zahlreichen Verstopfungen (vgl. Sandschlüfe) ist es aber durchaus möglich, dass solche phreatischen Röhren später noch ,,in
Betrieb" waren; so wurde gerade jüngst (2002) bei einem Vorstoß westlich des Sandschlufs beim Gothischen Gang eine solche nach Westen abfallende Druckröhre entdeckt, deren Wände mit einer dünnen,
frisch aussehenden Lehmschichte belegt sind, sodass es sehr wahrscheinlich ist, dass sich hier Wasser einige Zehnermeter hinauf zurückgestaut hat. Da diese Situation unterhalb des heutigen
Gletschervorfeldes liegt, dürfte dies wohl mit dem letzten großen Gletschervorstoß um 1850 zusammenhängen oder sogar noch jüngeren Datums sein. Es sei auch in diesem Zusammenhang daran erinnert,
dass ein Gutteil des derzeit bekannten Höhlensystems jenseits der markanten 1850er-Moräne liegt, somit vor nicht allzu langer Zeit in einer subglazialen Position war. Es gibt überdies die von
einem früheren Hüttenwirt überlieferte Beobachtung, dass ein nicht unbeträchtlicher Gletscherbach um die Mitte des 20. Jahrhunderts im Gletschervorfeld in einer Spalte im Zentralgneis
verschwunden sei (die genaue Position lässt sich nicht mehr eruieren).
Somit zeichnet sich insgesamt ein im wahrsten Sinne recht turbulentes Bild der früheren Spannagelhöhle sowie ihrer benachbarten kleineren Höhlen ab (von denen die meisten mit großer
Wahrscheinlichkeit eine Verbindung zur Haupthöhle hatten). Die Tätigkeit von hochenergetischen Schmelzwässern, aber auch von langsam phreatisch abfließendem Wasser hat hier über
Jahrhunderttausende ihre Spuren im Fels hinterlassen. Letzterer birgt übrigens die grundsätzliche Anlage des Höhlensystems in sich, und zwar in Form seiner ausgeprägten Schichtung (und
entsprechender schichtparalleler Wasserwegsamkeit), sowie in Gestalt seiner dominant west- und nordorientierten Klüftung.
Der Hochstegenmarmor, der gleichsam wie ein Sandwich zwischen Gneisen eingequetscht ist, fungierte also in der Vergangenheit wie ein poröse Lamelle, durch die das Wasser rasch abfließen und so
höhlenbildend wirken konnte. Dass übrigens neben der ganz offensichtlichen Erosion auch echte Karstlösung eine wichtige Rolle bei der Speläogenese gespielt hat (und auch heute noch spielt),
belegen neben den phreatischen Röhren die mancherorts spektakulär aus der Höhlenwand hervorstehenden braunen Hornsteingebilde. Dort, wo Erosion durch Bäche herrscht(e), sind sie abrasiert
(ähnlich wie an der Oberfläche ober halb der Höhle); dort jedoch, wo Spritz- oder Tropfwasser über eine Wand rinnt, z.B. in der Hermann-Gaun-Halle löst dieses den Marmor weg und übrig bleiben die
kieseligen Hornsteine.
Große Laugformen (Fließfacetten) an der Decke dieses großen, röhren-förmigen Ganges (Tunnel der Hoffnung), ehemals eine allseits wassererfüllte Druckröhre im Westsystem.
Das 95-er Fenster, der Beginn des 1995 entdeckten Nordsystems, ist ein schönes Beispiel für ein noch ursprünglich erhaltenes phreatisches Gangsystem, d.h. Allseits von Wasser erfüllte Röhre. Zu
beachten sind die großen Fließfacetten, die langsame Wasserbewegung indizieren.
Quelle: Festschrift 50 Jahre Landesverein für Höhlenkunde in Tirol